Marita Pabst-Weinschenk
Können Schüler/innen in drei Stunden Kommunikation
lernen? Didaktische Überlegungen und Erfahrungen aus
Rhetorik-Schulprojekten
Kloß im Hals, Stottern, verhaspelte Sätze ...
Stress-Situationen bereiten besonders vielen jungen Menschen Schwierigkeiten.
Ob in der Prüfung, in der Bewerbung beim künftigen Arbeitgeber oder im
Konfliktgespräch: Wer gut reden kann, kommt weiter.
Das wird inzwischen auch in der
Bildungspolitik beherzigt: Als mündliche Fachmethodik gehört praktische
Rhetorik seit 1999 zu den obligatorischen Bestandteilen des Deutschunterrichts
in den neuen Richtlinien für die Sekundarstufe II. Aber viele Lehrer/innen
fühlen sich bei der Vermittlung überfordert, weil sie selbst zu wenig darin
ausgebildet worden sind, und im regulären Unterricht steht neben den vielen
anderen Inhalten dafür auch oft nicht genug Zeit zur Verfügung. Deshalb bieten
sich Projekttage oder AGs an. Dabei stellen sich nicht nur die grundsätzlichen
Fragen
·
Wie
können Schüler/innen lernen, sich mündlich gut auszudrücken?
·
Worauf
sollten sie besonders achten?
·
Wie
können sie das trainieren?
sondern auch die Frage
·
Was
können sie in einer begrenzten Zeitdauer von z.B. drei Stunden lernen?
Mit diesen Fragen beschäftigen
sich Germanistik-Studierende seit dem Sommersemester 2000 in
Didaktik-Veranstaltungen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Bis
einschließlich Sommersemester 2001 wurden über 25 praxisnahe Rhetorik-Projekte
für die Sekundarstufe II geplant und in kleinen Gruppen mit jeweils etwa 12 Schüler/innen
an Schulen in Düsseldorf und Umgebung durchgeführt. Insgesamt haben bisher über
300 Schüler/innen an diesen Projekten, die jeweils drei Zeitstunden umfassten,
teilgenommen. Betreut wurden die Projekte von Dr. Marita Pabst-Weinschenk und
Mitarbeitern aus dem Lehr- und Forschungsbereich Mündlichkeit. Schulpraktische Studien gehören am Lehrstuhl für
Didaktik der deutschen Sprache und Literatur (Germanistik V) zum
Standardangebot. Ausnahme ist aber noch, dass sie wirklich in der Schulpraxis
erprobt werden. Neben dem literaturdidaktischen Praktikum, das Prof. Rupp seit
einigen Semestern anbietet, zeigen jetzt die Rhetorik-Schulprojekte, wie
Theorie-Praxis-Bezüge im Universitätsstudium hergestellt werden können.
Rhetorik in den Richtlinien
Nach den neuen Richtlinien und
Lehrplänen für die Sekundarstufe II in Nordrhein-Westfallen sollen Schülerinnen
und Schüler verstärkt Methoden mündlicher Arbeit erwerben. Damit ist Rhetorik
nicht nur im Lernbereich „Sprechen und Schreiben“ verankert, sondern wird darüber
hinaus als mündliche Fachmethodik obligatorischer Bestandteil des
Deutschunterrichts:
„ [...] Explizit zu thematisieren und durch regelmäßige
Praxis zu sichern sind Verfahren
·
der
zielgerichteten Sach- und Problembearbeitung im Gespräch, d.h. u.a.
n
sachbezogen
diskutieren
n
zielgerichtete
Argumentationen aufbauen
n
vereinbarte
Gesprächsregeln einhalten
n
Gesprächsformen
zweckentsprechend auswählen
· der Beeinflussung von
Kommunikationsprozessen bei der Kooperation, d.h. u.a.
n Gruppengespräche durch
systematisches Entwickeln von Argumentationen, Berichten, Resümees usw. vor-
und nachbereiten
n
Konflikte
bearbeiten, um trotz unterschiedlicher Interessenlage Einvernehmen zu erreichen
·
der
mündlichen Präsentation von Arbeitsergebnissen und Produkten, d.h. u.a.
n in freier Rede und gestützt auf
Notizen Ergebnisse sach- und adressatengerecht vortragen
n informationspsychologisch
wirksame Präsentationsformen einsetzen.
Wiederholte Übung und Erprobung
dieser Verfahren in unterschiedlichen Zusammenhängen sind notwendig, damit die
Lernenden die weit verbreitete Scheu gegenüber solchen Situationen überwinden.
Gelegenheiten dazu ergeben sich nicht nur im Deutschunterricht, sondern z. B.
auch bei der Planung, Durchführung und Auswertung von
· Veranstaltungen mit inner- und
außerschulischen Partnern
· fachübergreifender oder
Projektarbeit
·
Arbeit
in den Gremien der Schulmitwirkung.“ (Richtlinien Sek. II, NRW, Deutsch, 1999,
29)
Bedarf und
Nachfrage nach Rhetorik
Trotz aller Einsicht in die Notwendigkeit sprech- und
gesprächsdidaktischer Arbeit seit der kommunikativen Wende in den 70-er Jahren
und totz kognitiv-konstruktivistischer Renaissance der Sprecherziehung
(Pabst-Weinschenk 2002) wird eine mangelhafte Praxis beklagt: Im
Deutschunterricht wird immer noch die systematische Schulung der
mündlich-kommunikativen Kompetenz vernachlässigt (Lüdin 1996, 35; Merger 1998
IX; Spinner 1997 16f.). Deshalb wird wieder verstärkt auf rhetorische
Ausbildung im Deutschunterricht Wert gelegt. So hat auch die Gemeinützige
Hertie-Stiftung, die Anstösse zur Neuerung im Bildungswesen geben will, 1999
ihren Schwerpunkt auf die Förderung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit gelegt
und plädiert, anknüpfend an die Rhetoriktradition, für deren Wiedereinführung
in Schule und Hochschule. Denn
„Erst diese Fähigkeit
[sprachlicher Ausdruck!] ermöglicht Teilhabe an der demokratischen Gesellschaft
und Erfolg in der Kommunikationsgesellschaft. Für die Ausbildung dieser
Fähigkeit stand einst das Fach Rhetorik. Im deutschen Bildungswesen klafft
heute an seiner Stelle eine Lücke, die immer deutlicher als Mangel in
Erscheinung tritt. Die Stiftung hat daher im Oktober 1999 die Frage
gestellt: 'Wie kann in Deutschland Rhetorik in Schule und Hochschule
wieder eingeführt werden?'“ (Kemmann 2001a, 2)
Auf der Basis einer Bestandsaufnahme
vorhandener Projekte und Initiativen (bundesweit, länderspezifisch und im
internationalen Vergleich) ist ein Gutachten erstellt worden (Kemmann 2001b),
in dem die Wiedereinführung der Rhetorik begründet, Empfehlungen für die
Umsetzung und Kriterien für die Bewertung von Initiativen vorgestellt werden.
Dabei wurden auch schon die Düsseldorfer Rhetorik-Schulprojekte berücksichtigt.
(Kemmann 2001a, 52)
Der Bedarf an Rhetorik-Schulung
ist groß. Auf die Ausschreibung der Düsseldorfer Rhetorik-Schulprojekte im März
2000 haben ca. 40 Schulen aus der Region spontan Interesse an einer
Zusammenarbeit angemeldet. Diese große Resonanz zeigt den Bedarf an
Unterstützung in der Praxis. Viele Lehrer/innen beklagen ihre eigene schlechte
Ausbildung in diesem Bereich und sind dankbar für Anregungen und praktikable
Modelle. Die rhetorischen Vermittlungsfähigkeiten, die die Richtlinien
voraussetzen, können in den zwei Semesterwochenstunden, die obligatorisch für
Sprecherziehung/ Germanistische Sprachpraxis in den Prüfungs- und
Studienordnungen für zukünftige Deutschlehrer vorgesehen sind, nicht erworben
werden. Deshalb ist es sinnvoll, wenn auch in den schulpraktischen Studien
praktische Vermittlungsfähigkeiten erprobt werden.
Erwartungen der
Schüler/innen
Um die Auswahl der Übungen
möglichst gut an den Bedürfnissen und Erwartungen der Schüler/innen orientieren
zu können, haben die Studierenden vorher jeweils Befragungen durchgeführt. Wenn
man Schüler/innen (und auch andere Teilnehmer/innen in der Weiterbildung!) offen
nach ihren Erwartungen an ein Rhetorikseminar befragt, erhält man immer weit
streuende Antworten, bei denen sich aber bestimmte, zentral mit Rhetorik
verknüpfte Vorstellungen offenbaren. Diese weit verbreiteten Vorstellungen sind
oft gefühls- bzw. wirkungsbezogen und somit für sich allein gesehen kein
hinreichender Ansatzpunkt für das Lernen in diesem Bereich. Aber sie
verdeutlichen, von welchen Lerner-Erwartungen man bei der Planung ausgehen
muss. Spitzenreiter bei den Erwartungen von Schüler/innen an Rhetorik-Seminare
sind z. B.
•
FREIES
SPRECHEN -
75 %
(freie Rede, spontan, nicht so
lange überlegen müssen, nicht ablesen ... Improvisation, Hemmungen verlieren)
•
SICHER
SPRECHEN/WIRKEN - 55 %
•
ÜBERZEUGEN
-
35 %
Bezogen auf die Handlungs-Ebene
tauchen unter den Spitzenreitern nur auf:
•
KÖRPERSPRACHE
- 40 %
(locker, nicht verkrampft,
Mimik/Gestik verbessern, Verbindung von Sprache und Gestik)
•
DAS
PUBLIKUM ANSPRECHEN - 40 %
(interessant, ansprechend, mit
rhetorischen Mitteln die Aufmerksamkeit der Zuhörer erreichen)
(nach Marienberg, 20 Tn bei
Projektvorbesprechung im Juni 2000!)
Deklaratives und operatives Wissen über Rhetorik
Ein Ergebnis haben die
Rhetorik-Schulprojekte deutlich gezeigt: Kenntnisse und deklaratives Wissen
über Rhetorik bedeuten noch längst nicht Können (operatives Wissen). In einer
Projektgruppe wurde dies bei der Gesprächsführung ganz offensichtlich: Alle Schüler/innen
hatten bei ihrer Befragung bereits diverse sinnvolle Gesprächsregeln benannt,
aber bei der Übungsdiskussion hielt sich fast niemand daran, obwohl das
Gespräch mit Video beobachtet wurde und eine Auswertung angekündigt war.
Regelkenntnis führt also nicht automatisch zur Regelbeherrschung. Diese
Erkenntnis ist in der Sprachdidaktik zwar nicht neu, dennoch wird immer wieder
im Unterricht darauf gehofft, dass z. B. die Besprechung von Gesprächsregeln
dazu führt, dass die Schüler/innen besser miteinander diskutieren. Das
funktioniert nicht, weil kognitives Wissen nicht automatisch in die
Verhaltenssteuerung integriert wird. Rhetorik ist immer (seit der Antike)
Persönlichkeitsbildung und kann nur ganzheitlich und persönlichkeitsbezogen
vermittelt werden. Diese Erkenntnis liegt auch modernen konstruktivistischen
Lerntheorien zugrunde: Betrachtet man Lernen als eine selbstgesteuerte, innere
konstruktive Tätigkeit, muss man im Vermittlungsprozess immer wieder
verschiedenste Handlungsmöglichkeiten schaffen und Ergebnis und Prozess mit den
Schüler/innen reflektieren. Diese Handlungs- und Produktionsorientierung ist
beim Redenlernen unverzichtbar.
Rhetorische Werkstatt: Learning by doing
Bei den Rhetorik-Schulprojekten
erproben die Studierenden verschiedene Übungselemente aus der rhetorischen
Werkstatt (z. B. nach Allhoff/Allhoff 1998; Berthold 1993; Pabst-Weinschenk
1995; 1998a; 2000; Pawlowski/Lungershausen/Stöcker 1985; Praxis Deutsch Hefte
33 (1979), 144 (1997) und 160 (2000); Wagner 1999). Dabei geht es immer um ein
„learning by doing“: Bei der Vorbereitung nehmen sie selbst an Rhetorik-Übungen
teil, um sie in ihrer Wirkung zu erfahren und zu reflektieren. Anschließend
planen sie Übungsfolgen für Schüler/innen, bei denen diese nach dem Prinzip der
Selbsttätigkeit rhetorische Erfahrungen sammeln können. Die Studierenden selbst
erproben dabei dann ihr rhetorischen Fähigkeiten im Vermittlungsprozess. Für
sie ist es eine wichtige Erfahrung, im Studium Lernprozesse konkret zu planen
und selbst vor einem Kurs zu stehen und praktisch das durchzuführen, was sie
geplant haben. Dabei reflektieren sie ihre eigenen didaktisch-rhetorischen
Fähigkeiten und erwerben handlungsbezogen didaktische Kenntnisse.[1]
Die Rhetorik-Projekte werden z. T. mit Befragungen, teilnehmenden Beobachtungen
sowie Video-Protokollen ausgewertet, um den Studierenden diverse
Evaluationsdaten über Ihre Vermittlungsfähigkeiten an die Hand zu geben.
Ansatzpunkt bei der Reflexion: Präsentation
Als didaktisches Synopse-Modell
zum Redehandeln wird die Rede-Pyramide (Pabst-Weinschenk 1995, 23 ff.; 1998a;
1998b; 1999a; 1999b; 2000, 9-14) verwendet; erweitert wird sie um Überlegungen
zum Sprechdenken nach psycholinguistischen Sprachproduktionsmodellen. Der
Ansatzpunkt für rhetorische Reflexionen wird bei der Präsentation gewählt:
Körpersprache, Sprechausdruck und Formulierung der verbalen Äußerung. Dabei
werden die biologisch-physiologischen Grundlagen der mündlichen
Sprachproduktion besonders berücksichtigt, angefangen von der Atmung.
Sprechausdruck und Körpersprache leiten als Metamitteilung das Verständnis der
Worte und bestimmen die Einschätzung von Glaubwürdigkeit: Dem Augenschein der
Körpersprache und dem Klang des Sprechausdrucks wird immer mehr geglaubt als
den Worten. Die Einschätzung von Glaubwürdigkeit beruht auf der menschheits-
und individualgeschichtlichen Genese. Die menschliche Sprachfähigkeit
entwickelt sich von der Körpersprache zur Wortsprache. Die verbale Sprache ist
das höchst entwickelte und zuletzt erworbene Verständigungssystem. (Lurija
1982, 29)
Diese Entwicklung wirkt beim
Reden immer mit. Treten z. B. Formulierungsprobleme beim Sprechdenken oder Verständigungsschwierigkeiten
mit einem Gesprächspartner auf, wird automatisch auf das einfachere,
zugrundeliegende System der Körpersprache zurückgegriffen: Wir gestikulieren
oder zeigen auf etwas. Und Verkrampfungen der Körpermotorik blockieren den
Sprechfluss und die Formulierung, so dass Füllwörter und Sprechdenkgeräusche
wie äh, mh gehäuft auftreten.
Gegen ein additives Verständnis der Körpersprache
Neuere Erkenntnisse aus
empirischen Untersuchungen zum Zusammenhang von Körpersprache und
Sprachproduktion[2] weisen
darauf hin, dass die Gestik nicht additiv und damit vom Sprechablauf getrennt -
quasi nur zusätzlich illustrativ - zu sehen ist, sondern dass sie direkter an
das Sprachzentrum gekoppelt sei, als man bisher angenommen hat. Eine rein
äußerliche Betrachtung der Körpersprache als Zusatzinformation beim Reden, wie
sie bisher in der Sprachdidaktik vertreten wird, wird ihrer grundlegenden
Bedeutung bei der Sprachproduktion nicht gerecht. Man hat zwar bisher in
neueren sprachdidaktischen und rhetorischen Konzepten bereits erkannt, dass die
Körpersprache zum Gesamteindruck von Sicherheit eine wichtige Rolle spielt,
aber noch zu wenig berücksichtigt, dass geschlossene Haltungen und körperliche
Verkrampfungen auch den verbalen Planungsablauf beeinträchtigen. Am weitesten
reicht bisher die Sichtweise von Schuster, der schon feststellt, dass Gesten
den Sprachfluss unterstützen, aber dennoch beim Begriff der „Illustratoren“
bleibt: Zu einer sicher wirkenden Körpersprache, die sowohl bei einem Referat
als auch in einer Diskussionsrunde zum Tragen kommt, gehören neben dem
Blickkontakt mit den Zuhörern z.B. auch frei gestikulierende Hände.
Diese „Illustratoren unterstützen
den Sprachfluß; unsere Handgestik ist das wichtigste Instrumentarium. Mit
unseren Händen, wobei selbstverständlich der ganze Körper mitagiert, weisen wir
bestimmten Satzteilen oder Wörtern eine herausragende Bedeutung zu oder aber
schwächen sie ab. Es sind also Zusatzinformationen für den Zuhörer/Zuschauer
und insofern außerordentlich wichtig.“ (Schuster 1998, 56)
Die Verarbeitung einer längeren
Äußerung muss nicht erst auf einer Stufe fertiggestellt sein, bevor zur
nächsten Stufe übergegangen werden kann. Verschiedene Teile einer Äußerung
werden auf verschiedenen Stufen gleichzeitig (inkrementell) verarbeitet. Flüssige
Artikulation setzt eine Konzeptualisierung voraus (Zielsetzung), nicht aber die
abgeschlossene grammatisch-phonologische Kodierung der Äußerung. - Diesem
modernen, psycholinguistischen Modell (Levelt 1989, 9ff.; im Überblick auch
schon bei Pechmann 1984, 78ff.) entsprechen traditionelle sprecherzieherische
Vorstellungen zum Sprechdenken (Drach 1926, 23f.), Kleists Ansicht „Über die
allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (1805/06) und auch das Modell
der inneren Struktur der Sprechhandlung, wie es in der russischen
Sprechtätigkeitstheorie vertreten wird (Leont’ev 1975).
Ich gehe davon aus und, dass
•
bei
rhythmisch-funktional unterstreichender Gestik weniger Versprecher und
Füllwörter auftreten,
•
die Geste immer
einen Bruchteil einer Sekunde vor dem Wort, das sie unterstreicht, auftritt,
•
gestisches Sprechen
zu einer klarer akzentuierten akustischen Struktur führt (mehr und deutlichere
Pausen, die selbst bei flotterem Grundsprechtempo die Verständlichkeit
verbessern, sowie stärkere Betonungen).
Dafür sprechen alle Erfahrungen aus den
Schulprojekten sowie aus meiner über zwanzigjährigen freiberuflichen Tätigkeit
als Sprecherzieherin und Rhetoriktrainerin.
Prinzip
konstruktiver Kritik
Die Studierenden und auch die Schüler/innen erwerben
Handlungssicherheit durch die Übungen, die mit Video-Feedback und persönlichen
Rückmelde-Prozessen reflektiert werden. Dadurch, dass sie konstruktiv
kritisiert werden, also Rückmeldungen zu ihren jeweiligen persönlichen
rhetorischen Stärken und Schwächen sowie Hinweise zu Verbesserungsmöglichkeiten
erhalten, können sie gezielt an ihren jeweiligen Schwachpunkten ansetzen. Sie
erfahren bei ihren eigenen Probereden oder anderen Übungen, wie sprachliche,
körpersprachliche und sprecherische Mittel in verschiedenen
Kommunikationssituationen mit unterschiedlichen Zielsetzungen zusammen wirken
und eingesetzt werden können.
Zu Lern- und Übungszwecken sollte
man aber immer nur einzelne Aspekte stärker bewusst vollziehen. Denn beim
Sprechen laufen alle Aspekte der Sprachproduktion weitgehend automatisiert und
unbewusst ab. Nur bei Störungen und Irritationen werden uns einzelne Aspekte
bewusst. Wollte man alle Sprechoperationen ständig bewusst vollziehen, würde
man handlungsunfähig. Die Automatisierung hat eine wichtige
Entlastungsfunktion. Deshalb ist es wichtig, die Aufmerksamkeit der
Schüler/innen immer nur auf einzelne zu verbessernde Aspekte zu fokussieren.
„Von der Rede zum
Gespräch“
Rhetorische Übungen können bei verschiedenen Rede- oder
Gesprächsformen ansetzen. Hier wird für den didaktischen Weg „Von der Rede zum
Gespräch“ für die Erwachsenenbildung (Pabst-Weinschenk 1991), aber auch schon
für die Sekundarstufe II plädiert. Denn das an den Redner oder die Rednerin
erteilte Rederecht
· führt zur Pflicht und Übernahme
von Situationsverantwortung,
·
erzeugt
Bewusstheit intentionalen Redehandelns,
· schafft eine objektive
Notwendigkeit zur Prozesssteuerung,
· macht das Kooperationsprinzip
erlebbar,
· reduziert die Komplexität von
Interaktion und
·
ermöglicht
Transfer auf komplexere Situationen (Zweier-, Kleingruppen- bis zum
Großgruppengespräch).
Voraussetzung ist allerdings,
dass man Reden als virtuelle Dialoge begreift. Redeübungen ermöglichen ein
intensiveres persönliches Lernen und fördern stärker das Bewusstsein für die
Gestaltung sprechsprachlicher Kommunikation. Die Schüler/innen erleben dabei
stärker die Notwendigkeit, selbst Verantwortung für den Kommunikationsprozess
zu übernehmen, und sie stehen dabei mit
ihren persönlichen Kommunikationsfähigkeiten mehr im Mittelpunkt.
Für Schüler/innen
ungewohnt
Die intensive praktische Arbeit in den kleinen Gruppen
war insgesamt für viele Schüler/innen ungewohnt. Durch die Videomitschnitte,
das persönliche Feedback und die konstruktive Kritik haben sie gelernt, ihr
eigenes Sprechverhalten realistischer einzuschätzen. Eigene Stärken und
Schwächen festzustellen, ist immer der erste Schritt in einem rhetorischen
Lernprozess. Aber gerade das ist für
Schüler/innen oft noch sehr ungewohnt. Obwohl viele beim Reden gar nicht so
unsicher wirken, wie sie sich selbst fühlen, sondern schon recht selbstbewusst
auftreten, mögen sie sich selbst im Video nicht so gern anschauen. Vor allem
ihre Stimme finden die meisten schrecklich. Dass jeder sich selbst immer anders
hört, als andere ihn wahrnehmen, ist physiologisch normal. Vielen Schüler/innen
fällt es dennoch schwer, sich mit ihrem Stimmklang ‘anzufreunden’, obwohl die
meisten die positiven Rückmeldungen auch als beruhigend empfunden haben.
Frei sprechen
können
Um die Auswahl der Übungen möglichst gut auf die
Schülerbedürfnisse abzustellen, haben die Studierenden vorher bei ihren
Teilnehmern jeweils eine Befragung durchgeführt. Dabei wurde deutlich, dass die
meisten Schüler/innen schon viele Referate gehalten haben, aber meistens mehr
abgelesen und nicht frei gesprochen haben. Das freie Sprechen bereitet vielen Probleme, weil sie mündlich genauso
ausdrücken wollen, wie sie es beim Schreiben gelernt haben. Dass dies nicht
funktionieren kann, wird offensichtlich, wenn man überlegt, wie viel Zeit einem
jeweils zur Verfügung steht. Während man beim Schreiben innehalten kann, um
Wörter auszutauschen oder umzustellen, muss man beim Sprechen die erstbeste
Formulierung nehmen, die einem in den Sinn kommt. Gelegentliche Füllwörter wie äh, halt oder ein Satzbruch können sich
einschleichen. Werden sie nicht zu oft benutzt, fallen sie gar nicht auf.
Auffälliges Stocken im Sprechfluss und Denkblockaden hängen meistens mit
Verkrampfungen in der Körpersprache zusammen. Diese Erkenntnis war für die Schüler/innen
oft ganz neu. Gestik dient eben nicht nur zur Illustration, sondern der ganze
Körper spricht immer mit. Wer sich sprachlich gut ausdrücken möchte, ist auf
die unterstützende Funktion der Körpersprache angewiesen. Bei den
Videoaufnahmen konnten sie es selbst sehen: Wer seine Gestik nicht unterdrückt,
spricht flüssiger, macht Sinnpausen und verwendet weniger Füllwörter. Diese
Erkenntnis, die durch neue psycholinguistische Forschungen belegt wird (siehe
oben!), haben die Schüler/innen in den Projekten am eigenen Leib erfahren, beim
Video-Playback gesehen und gehört und bei den Besprechungen reflektiert.
Erschwerende
Rahmenbedingungen in der Schule
Die Rhetorik-Schulprojekte stellen im normalen
Schulalltag eine Ausnahme dar. Sie sind Sonderveranstaltungen. Das ist
beabsichtigt, denn im traditionellen Schulsystem werden rhetorische
Lernprozesse erschwert, vor allem durch:
1.
Rhetorische
Lernprozesse (mit Video-Auswertung und Besprechung) brauchen Zeit, die vielfach
bei der Überfrachtung der gesamten Lehrpläne de facto nicht zur Verfügung
steht.
2.
Rhetorische
Übungen und Erfahrungslernen können schlecht im 45-Minuten-Takt der normalen
Unterrichtszeit organisiert werden. Als Projekte finden rhetorische Übungen
dann immer nur ausnahmsweise statt, was kontinuierliches Lernen in diesem
Bereich erschwert.
3.
Eine
funktionierende technische Ausstattung (TV, Video-Camera usw.) ist notwendig.
4.
Der
permanente Benotungsdruck, unter dem Schüler/innen stehen, blockiert und
mindert ihre positive Einstellung. Sie haben weniger Spaß bei der Sache. Sie
erleben in der Schule selten Situationen als Freiräume, in dem sie
Verhaltensalternativen ausprobieren können ohne Ernstfallkonsequenz, wenn’s
daneben geht.
5.
Durch
die Benotungsnotwendigkeit sind Lehrer/innen manchmal ungeübter im Geben (und
Nehmen!) offener Feedbacks. Sie neigen manchmal zu sehr zu - wenn auch gut
gemeinten - Ratschlägen, die von den Schüler/innen eher destruktiv als
konstruktiv erlebt werden.
Drei Stunden zum
‘Schnuppern’
Die provokative Frage im Titel dieses Beitrags „Können
Schüler/innen in drei Stunden Kommunikation lernen?“ muss man in dieser
allgemeinen Form natürlich verneinen. Aber was sie in dieser Zeit erfahren,
sind wichtige neue Aspekte für ihre eigene Kommunikationsbiografie. Sie erleben
in der Regel in zwei kleineren praktischen Übungen, wie sie selbst reden,
erhalten von ihren Mitschüler/innen und von Trainerseite (Studierende und
Dozentin) gezieltes Feedback und Anregungen für weiteres Lernen in diesem
Bereich. Die konstruktive Kritik ermöglicht ihnen, ihre persönlichen Stärken
wahrzunehmen und wichtig zu nehmen und sich gezielt nur auf einzelne
Punkte beim Reden zu konzentrieren.
Dadurch werden Sprechblockaden verhindert, denn flüssige Sprachproduktion wird
verzögert, wenn der Monitoring-Vergleich von Form (des inneren und/oder äußeren
Sprechens) und Konzept die Konzeptualisierung dominiert. Das geschieht, wenn
man auf zu viele Sprechoperationen gleichzeitig achten will.
Durch das Video-Playback haben
die Schüler/innen die Chance, sich selbst so zu sehen und zu hören, wie es
andere wahrnehmen. Dadurch kommt es zu einer Verringerung des sogenannten
blinden Flecks in der Selbstwahrnehmung (Johari-Window). Ihre Aufmerksamkeit
wird insgesamt auf die besonderen Phänomene des mündlichen Ausdrucks gelenkt
und damit erweitern sie neben den persönlichen Erfahrungen auch ihr Wissen über
Kommunikation und rhetorische Wirkungszusammenhänge. In diesem Sinne leisten
auch Schnupperkurse von nur drei Stunden einen wichtigen Beitrag zum
persönlichen rhetorischen Lernen und fördern die Sprachbewusstheit.
Literatur
Allhoff, Dieter
W.; Allhoff, Waltraud 1998: Rhetorik und Kommunikation. Ein Lehr- und
Übungsbuch zur Rede- und Gesprächspädagogik. 12., aktualisierte und erw. Aufl.,
Regensburg: Bayer. Verlag für Sprechwissenschaft
Berthold,
Siegwart 1993: Reden lernen. Übungen für die Sekundarstufe I und II.
Frankfurt/M: Cornelsen Scriptor
Drach, Erich
1926: Die redenden Künste. Leipzig: Quelle und Meyer
Kemmann,
Ansgar 2001a: Rhetorik in Schule und Hochschule. Dokumentation im Auftrag der
Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Frankfurt/M.
Kemmann,
Ansgar 2001b: Wie kann in Deutschland Rhetorik in Schule und Hochschule wieder
eingeführt werden? Gutachten im Auftrag der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung.
Frankfurt/M.
Leont’ev, A. A.
1975: Psycholinguistische Einheiten und die Erzeugung sprachlicher Einheiten. Berlin
Levelt,
Willem J.M. 1989: Speaking. From Intention to Articulation. Massachusetts
Institute of Technology
Lüdin,
Markus 1996: Rhetorik - ein ideales Feld integrativen Unterrichts. In: Der
Deutschunterricht. 48. Jg., H. 6, 34-43
Lurija, A. R.
1982: Sprache und Bewußtsein. Berlin
Merger,
Andrea 1998: Vorwort. In: Jahrbuch Rhetorik, Bd. 17: Rhetorik in der Schule.
Tübingen: Niemeyer, IX-XII
Pabst-Weinschenk,
Marita 1991: 'Von der Rede zum Gespräch'. Zur Didaktik der rhetorischen
Kommunikation in der Erwachsenenbildung. In: Lüschow, F.; Pabst-Weinschenk, M.
(Hg.): Mündliche Kommunikation als kooperativer Prozeß. Festschrift für Elmar
Bartsch. Frankfurt/M.: Lang, 42-54
Pabst-Weinschenk,
Marita 1995: Reden im Studium. Ein Trainingsprogramm. Frankfurt/M.: Cornelsen
Scriptor (2. Aufl. 1999)
Pabst-Weinschenk,
Marita 1998a: Mündlich argumentieren. In: Rhetorik. Ein internationales
Jahrbuch 17, Tübingen: Niemeyer, 106-133
Pabst-Weinschenk,
Marita 1998b: Rhetorische Überlegungen zum Kommunikationsprozeß in der
Therapie. In: Sprache, Stimme, Gehör. Stuttgart: Thieme, 22, 4, 188-192
Pabst-Weinschenk,
Marita 1999a: Zufriedene Kunden. Ein Beitrag zur kooperativen Verkaufsrhetorik.
In: Mönnich, A.; Jaskolski, E. W. (Hg.): Kooperation in der Kommunikation.
München: Reinhardt, 161-169
Pabst-Weinschenk,
Marita 1999b: KOPF - BAUCH - FUSS - Wo steht die moderne Rhetorik? In: Mönnich,
A. (Hg.): Rhetorik zwischen Tradition und Innovation. München: Reinhardt, 78-90
Pabst-Weinschenk,
Marita 2000: Sprechwerkstatt. Sprech- und Stimmbildung in der Schule.
Braunschweig: Westermann
Pabst-Weinschenk,
Marita 2002, in Vorbereitung: Geschichte der Sprech- und Gesprächsdidaktik. In:
Didaktik der deutschen Sprache - ein Handbuch. Paderborn: Schöningh [Große
Reihe UTB]
Pawlowski,
Klaus; Lungershausen, Helmut; Stöcker, Fritz 1985: Jetzt rede ich. Ein Spiel-
und Trainingsbuch zur praktischen Rhetorik. Wolfsburg: Niedersachsen Druck (2.
Aufl. Hannover 1993)
Pechmann, Thomas
1984: Sprachproduktion. Zur Generierung komplexer Nominalphrasen. Opladen:
Leske
Praxis
Deutsch, 1979, Heft 33 „Rhetorische Kommunikation“
Praxis
Deutsch, 1997, Heft 144 „Reden lernen“
Praxis
Deutsch, 2000, Heft 160 „Argumentieren“
Richtlinien
und Lehrpläne für die Sek. II in NRW, Gymnasium/Gesamtschule, Deutsch. Hg. v.
MSWWF. Frechen 1999
Schuster, Karl
1998: Mündlicher Sprachgebrauch im Deutschunterricht: Denken - Sprechen -
Handeln. Theorie und Praxis. Hohengehren: Schneider
Spinner,
Kaspar H. 1997: Reden lernen. In: Prais Deutsch. 24. Jg., H. 144, 16-22
Wagner, Roland
W. 1999: Grundlagen der mündlichen Kommunikation. Sprechpädagogische Bausteine
für alle, die viel und gut reden müssen. 8., erw. Aufl., Regensburg: Bayer.
Verlag für Sprechwissenschaft
[1] Rhetorik müsste allgemein in der Deutschdidaktik stärker berücksichtigt werden. Damit könnten alte Traditionen neu belebt werden: Denn seit der Antike wares es die Rhetoriker, die über Lehren und Lernen und Vermittlungsprozesse nachgedacht und didaktische Theorien entwickelt haben. Rhetorik zählte neben Grammatik und Dialektik zum Trivium der sieben freien Künsten, also dem wissenschaftlichen Bildungskanon. Im Mittelalter und in der Renaissance werden sie in der sogenannten Artistenfakultät zur Vorbereitung auf das eigentliche Studium von Theologie, Recht oder Medizin gelehrt. Die Artistenfakultät rückt im 18. Jahrhundert auf zur Philosophischen Fakultät, also der Fakultät, die heute zuständig ist für die Philologien und Lehramtsstudien.
[2] Nach Robert Krauss, einem Psychologen der Columbia Universität kann „Gestik als geistige Brücke zwischen räumlichen Konzepten und Wörtern dienen“, die es erleichtert, „schnell die richtige Phrase zu denken“. (In: Psychology Today, März/April 1997 (1. Mai 1997) Zit. nach: L.O.G.O.S. 4/1998, 284 f.) Und auch der niederländische Psychologe Jan-Peter de Ruiter vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nimwegen hat erforscht, das Gesten beim Sprechen und Erinnern helfen. Versprecher kündigen sich z. B. in der Gestik an. (Laut dpa, Nachricht in der NRZ vom 25.02.1998).