Marita Pabst-Weinschenk

Können Schüler/innen in drei Stunden Kommunikation lernen? Didaktische Überlegungen und Erfahrungen aus Rhetorik-Schulprojekten 

 

Kloß im Hals, Stottern, verhaspelte Sätze ... Stress-Situationen bereiten besonders vielen jungen Menschen Schwierigkeiten. Ob in der Prüfung, in der Bewerbung beim künftigen Arbeitgeber oder im Konfliktgespräch: Wer gut reden kann, kommt weiter.

Das wird inzwischen auch in der Bildungspolitik beherzigt: Als mündliche Fachmethodik gehört praktische Rhetorik seit 1999 zu den obligatorischen Bestandteilen des Deutschunterrichts in den neuen Richtlinien für die Sekundarstufe II. Aber viele Lehrer/innen fühlen sich bei der Vermittlung überfordert, weil sie selbst zu wenig darin ausgebildet worden sind, und im regulären Unterricht steht neben den vielen anderen Inhalten dafür auch oft nicht genug Zeit zur Verfügung. Deshalb bieten sich Projekttage oder AGs an. Dabei stellen sich nicht nur die grundsätzlichen Fragen

·      Wie können Schüler/innen lernen, sich mündlich gut auszudrücken?

·      Worauf sollten sie besonders achten?

·      Wie können sie das trainieren?

sondern auch die Frage

·      Was können sie in einer begrenzten Zeitdauer von z.B. drei Stunden lernen?

Mit diesen Fragen beschäftigen sich Germanistik-Studierende seit dem Sommersemester 2000 in Didaktik-Veranstaltungen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Bis einschließlich Sommersemester 2001 wurden über 25 praxisnahe Rhetorik-Projekte für die Sekundarstufe II geplant und in kleinen Gruppen mit jeweils etwa 12 Schüler/innen an Schulen in Düsseldorf und Umgebung durchgeführt. Insgesamt haben bisher über 300 Schüler/innen an diesen Projekten, die jeweils drei Zeitstunden umfassten, teilgenommen. Betreut wurden die Projekte von Dr. Marita Pabst-Weinschenk und Mitarbeitern aus dem Lehr- und Forschungsbereich Mündlichkeit. Schulpraktische Studien gehören am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur (Germanistik V) zum Standardangebot. Ausnahme ist aber noch, dass sie wirklich in der Schulpraxis erprobt werden. Neben dem literaturdidaktischen Praktikum, das Prof. Rupp seit einigen Semestern anbietet, zeigen jetzt die Rhetorik-Schulprojekte, wie Theorie-Praxis-Bezüge im Universitätsstudium hergestellt werden können.

 

Rhetorik in den Richtlinien

Nach den neuen Richtlinien und Lehrplänen für die Sekundarstufe II in Nordrhein-Westfallen sollen Schülerinnen und Schüler verstärkt Methoden mündlicher Arbeit erwerben. Damit ist Rhetorik nicht nur im Lernbereich „Sprechen und Schreiben“ verankert, sondern wird darüber hinaus als mündliche Fachmethodik obligatorischer Bestandteil des Deutschunterrichts:

„ [...] Explizit zu thematisieren und durch regelmäßige Praxis zu sichern sind Verfahren

·      der zielgerichteten Sach- und Problembearbeitung im Gespräch, d.h. u.a.

n    sachbezogen diskutieren

n    zielgerichtete Argumentationen aufbauen

n    vereinbarte Gesprächsregeln einhalten

n    Gesprächsformen zweckentsprechend auswählen

·      der Beeinflussung von Kommunikationsprozessen bei der Kooperation, d.h. u.a.

n    Gruppengespräche durch systematisches Entwickeln von Argumentationen, Berichten, Resümees usw. vor- und nachbereiten

n    Konflikte bearbeiten, um trotz unterschiedlicher Interessenlage Einvernehmen zu erreichen

·      der mündlichen Präsentation von Arbeitsergebnissen und Produkten, d.h. u.a.

n    in freier Rede und gestützt auf Notizen Ergebnisse sach- und adressatengerecht vortragen

n    informationspsychologisch wirksame Präsentationsformen einsetzen.

Wiederholte Übung und Erprobung dieser Verfahren in unterschiedlichen Zusammenhängen sind notwendig, damit die Lernenden die weit verbreitete Scheu gegenüber solchen Situationen überwinden. Gelegenheiten dazu ergeben sich nicht nur im Deutschunterricht, sondern z. B. auch bei der Planung, Durchführung und Auswertung von

·      Veranstaltungen mit inner- und außerschulischen Partnern

·      fachübergreifender oder Projektarbeit

·      Arbeit in den Gremien der Schulmitwirkung.“ (Richtlinien Sek. II, NRW, Deutsch, 1999, 29)

 

Bedarf und Nachfrage nach Rhetorik

Trotz aller Einsicht in die Notwendigkeit sprech- und gesprächsdidaktischer Arbeit seit der kommunikativen Wende in den 70-er Jahren und totz kognitiv-konstruktivistischer Renaissance der Sprecherziehung (Pabst-Weinschenk 2002) wird eine mangelhafte Praxis beklagt: Im Deutschunterricht wird immer noch die systematische Schulung der mündlich-kommunikativen Kompetenz vernachlässigt (Lüdin 1996, 35; Merger 1998 IX; Spinner 1997 16f.). Deshalb wird wieder verstärkt auf rhetorische Ausbildung im Deutschunterricht Wert gelegt. So hat auch die Gemeinützige Hertie-Stiftung, die Anstösse zur Neuerung im Bildungswesen geben will, 1999 ihren Schwerpunkt auf die Förderung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit gelegt und plädiert, anknüpfend an die Rhetoriktradition, für deren Wiedereinführung in Schule und Hochschule. Denn

„Erst diese Fähigkeit [sprachlicher Ausdruck!] ermöglicht Teilhabe an der demokratischen Gesellschaft und Erfolg in der Kommunikationsgesellschaft. Für die Ausbildung dieser Fähigkeit stand einst das Fach Rhetorik. Im deutschen Bildungswesen klafft heute an seiner Stelle eine Lücke, die immer deutlicher als Mangel in Erscheinung tritt. Die Stiftung hat daher im Oktober 1999 die Frage gestellt: 'Wie kann in Deutschland Rhetorik in Schule und Hochschule wieder eingeführt werden?'“ (Kemmann 2001a, 2)

Auf der Basis einer Bestandsaufnahme vorhandener Projekte und Initiativen (bundesweit, länderspezifisch und im internationalen Vergleich) ist ein Gutachten erstellt worden (Kemmann 2001b), in dem die Wiedereinführung der Rhetorik begründet, Empfehlungen für die Umsetzung und Kriterien für die Bewertung von Initiativen vorgestellt werden. Dabei wurden auch schon die Düsseldorfer Rhetorik-Schulprojekte berücksichtigt. (Kemmann 2001a, 52)

Der Bedarf an Rhetorik-Schulung ist groß. Auf die Ausschreibung der Düsseldorfer Rhetorik-Schulprojekte im März 2000 haben ca. 40 Schulen aus der Region spontan Interesse an einer Zusammenarbeit angemeldet. Diese große Resonanz zeigt den Bedarf an Unterstützung in der Praxis. Viele Lehrer/innen beklagen ihre eigene schlechte Ausbildung in diesem Bereich und sind dankbar für Anregungen und praktikable Modelle. Die rhetorischen Vermittlungsfähigkeiten, die die Richtlinien voraussetzen, können in den zwei Semesterwochenstunden, die obligatorisch für Sprecherziehung/ Germanistische Sprachpraxis in den Prüfungs- und Studienordnungen für zukünftige Deutschlehrer vorgesehen sind, nicht erworben werden. Deshalb ist es sinnvoll, wenn auch in den schulpraktischen Studien praktische Vermittlungsfähigkeiten erprobt werden.

 

Erwartungen der Schüler/innen

Um die Auswahl der Übungen möglichst gut an den Bedürfnissen und Erwartungen der Schüler/innen orientieren zu können, haben die Studierenden vorher jeweils Befragungen durchgeführt. Wenn man Schüler/innen (und auch andere Teilnehmer/innen in der Weiterbildung!) offen nach ihren Erwartungen an ein Rhetorikseminar befragt, erhält man immer weit streuende Antworten, bei denen sich aber bestimmte, zentral mit Rhetorik verknüpfte Vorstellungen offenbaren. Diese weit verbreiteten Vorstellungen sind oft gefühls- bzw. wirkungsbezogen und somit für sich allein gesehen kein hinreichender Ansatzpunkt für das Lernen in diesem Bereich. Aber sie verdeutlichen, von welchen Lerner-Erwartungen man bei der Planung ausgehen muss. Spitzenreiter bei den Erwartungen von Schüler/innen an Rhetorik-Seminare sind z. B.

          FREIES SPRECHEN                                            - 75 %

(freie Rede, spontan, nicht so lange überlegen müssen, nicht ablesen ... Improvisation, Hemmungen verlieren)

          SICHER SPRECHEN/WIRKEN           - 55 %

          ÜBERZEUGEN                                            - 35 %

Bezogen auf die Handlungs-Ebene tauchen unter den Spitzenreitern nur auf:

          KÖRPERSPRACHE                              - 40 %

(locker, nicht verkrampft, Mimik/Gestik verbessern, Verbindung von Sprache und Gestik)

          DAS PUBLIKUM ANSPRECHEN                  - 40 %

(interessant, ansprechend, mit rhetorischen Mitteln die Aufmerksamkeit der Zuhörer erreichen)

(nach Marienberg, 20 Tn bei Projektvorbesprechung im Juni 2000!)

 

Deklaratives und operatives Wissen über Rhetorik

Ein Ergebnis haben die Rhetorik-Schulprojekte deutlich gezeigt: Kenntnisse und deklaratives Wissen über Rhetorik bedeuten noch längst nicht Können (operatives Wissen). In einer Projektgruppe wurde dies bei der Gesprächsführung ganz offensichtlich: Alle Schüler/innen hatten bei ihrer Befragung bereits diverse sinnvolle Gesprächsregeln benannt, aber bei der Übungsdiskussion hielt sich fast niemand daran, obwohl das Gespräch mit Video beobachtet wurde und eine Auswertung angekündigt war. Regelkenntnis führt also nicht automatisch zur Regelbeherrschung. Diese Erkenntnis ist in der Sprachdidaktik zwar nicht neu, dennoch wird immer wieder im Unterricht darauf gehofft, dass z. B. die Besprechung von Gesprächsregeln dazu führt, dass die Schüler/innen besser miteinander diskutieren. Das funktioniert nicht, weil kognitives Wissen nicht automatisch in die Verhaltenssteuerung integriert wird. Rhetorik ist immer (seit der Antike) Persönlichkeitsbildung und kann nur ganzheitlich und persönlichkeitsbezogen vermittelt werden. Diese Erkenntnis liegt auch modernen konstruktivistischen Lerntheorien zugrunde: Betrachtet man Lernen als eine selbstgesteuerte, innere konstruktive Tätigkeit, muss man im Vermittlungsprozess immer wieder verschiedenste Handlungsmöglichkeiten schaffen und Ergebnis und Prozess mit den Schüler/innen reflektieren. Diese Handlungs- und Produktionsorientierung ist beim Redenlernen unverzichtbar.

 

Rhetorische Werkstatt: Learning by doing

Bei den Rhetorik-Schulprojekten erproben die Studierenden verschiedene Übungselemente aus der rhetorischen Werkstatt (z. B. nach Allhoff/Allhoff 1998; Berthold 1993; Pabst-Weinschenk 1995; 1998a; 2000; Pawlowski/Lungershausen/Stöcker 1985; Praxis Deutsch Hefte 33 (1979), 144 (1997) und 160 (2000); Wagner 1999). Dabei geht es immer um ein „learning by doing“: Bei der Vorbereitung nehmen sie selbst an Rhetorik-Übungen teil, um sie in ihrer Wirkung zu erfahren und zu reflektieren. Anschließend planen sie Übungsfolgen für Schüler/innen, bei denen diese nach dem Prinzip der Selbsttätigkeit rhetorische Erfahrungen sammeln können. Die Studierenden selbst erproben dabei dann ihr rhetorischen Fähigkeiten im Vermittlungsprozess. Für sie ist es eine wichtige Erfahrung, im Studium Lernprozesse konkret zu planen und selbst vor einem Kurs zu stehen und praktisch das durchzuführen, was sie geplant haben. Dabei reflektieren sie ihre eigenen didaktisch-rhetorischen Fähigkeiten und erwerben handlungsbezogen didaktische Kenntnisse.[1] Die Rhetorik-Projekte werden z. T. mit Befragungen, teilnehmenden Beobachtungen sowie Video-Protokollen ausgewertet, um den Studierenden diverse Evaluationsdaten über Ihre Vermittlungsfähigkeiten an die Hand zu geben.

 

Ansatzpunkt bei der Reflexion: Präsentation

Als didaktisches Synopse-Modell zum Redehandeln wird die Rede-Pyramide (Pabst-Weinschenk 1995, 23 ff.; 1998a; 1998b; 1999a; 1999b; 2000, 9-14) verwendet; erweitert wird sie um Überlegungen zum Sprechdenken nach psycholinguistischen Sprachproduktionsmodellen. Der Ansatzpunkt für rhetorische Reflexionen wird bei der Präsentation gewählt: Körpersprache, Sprechausdruck und Formulierung der verbalen Äußerung. Dabei werden die biologisch-physiologischen Grundlagen der mündlichen Sprachproduktion besonders berücksichtigt, angefangen von der Atmung. Sprechausdruck und Körpersprache leiten als Metamitteilung das Verständnis der Worte und bestimmen die Einschätzung von Glaubwürdigkeit: Dem Augenschein der Körpersprache und dem Klang des Sprechausdrucks wird immer mehr geglaubt als den Worten. Die Einschätzung von Glaubwürdigkeit beruht auf der menschheits- und individualgeschichtlichen Genese. Die menschliche Sprachfähigkeit entwickelt sich von der Körpersprache zur Wortsprache. Die verbale Sprache ist das höchst entwickelte und zuletzt erworbene Verständigungssystem. (Lurija 1982, 29)

Diese Entwicklung wirkt beim Reden immer mit. Treten z. B. Formulierungsprobleme beim Sprechdenken oder Verständigungsschwierigkeiten mit einem Gesprächspartner auf, wird automatisch auf das einfachere, zugrundeliegende System der Körpersprache zurückgegriffen: Wir gestikulieren oder zeigen auf etwas. Und Verkrampfungen der Körpermotorik blockieren den Sprechfluss und die Formulierung, so dass Füllwörter und Sprechdenkgeräusche wie äh, mh gehäuft auftreten.

 

Gegen ein additives Verständnis der Körpersprache

Neuere Erkenntnisse aus empirischen Untersuchungen zum Zusammenhang von Körpersprache und Sprachproduktion[2] weisen darauf hin, dass die Gestik nicht additiv und damit vom Sprechablauf getrennt - quasi nur zusätzlich illustrativ - zu sehen ist, sondern dass sie direkter an das Sprachzentrum gekoppelt sei, als man bisher angenommen hat. Eine rein äußerliche Betrachtung der Körpersprache als Zusatzinformation beim Reden, wie sie bisher in der Sprachdidaktik vertreten wird, wird ihrer grundlegenden Bedeutung bei der Sprachproduktion nicht gerecht. Man hat zwar bisher in neueren sprachdidaktischen und rhetorischen Konzepten bereits erkannt, dass die Körpersprache zum Gesamteindruck von Sicherheit eine wichtige Rolle spielt, aber noch zu wenig berücksichtigt, dass geschlossene Haltungen und körperliche Verkrampfungen auch den verbalen Planungsablauf beeinträchtigen. Am weitesten reicht bisher die Sichtweise von Schuster, der schon feststellt, dass Gesten den Sprachfluss unterstützen, aber dennoch beim Begriff der „Illustratoren“ bleibt: Zu einer sicher wirkenden Körpersprache, die sowohl bei einem Referat als auch in einer Diskussionsrunde zum Tragen kommt, gehören neben dem Blickkontakt mit den Zuhörern z.B. auch frei gestikulierende Hände.

Diese „Illustratoren unterstützen den Sprachfluß; unsere Handgestik ist das wichtigste Instrumentarium. Mit unseren Händen, wobei selbstverständlich der ganze Körper mitagiert, weisen wir bestimmten Satzteilen oder Wörtern eine herausragende Bedeutung zu oder aber schwächen sie ab. Es sind also Zusatzinformationen für den Zuhörer/Zuschauer und insofern außerordentlich wichtig.“ (Schuster 1998, 56)

Die Verarbeitung einer längeren Äußerung muss nicht erst auf einer Stufe fertiggestellt sein, bevor zur nächsten Stufe übergegangen werden kann. Verschiedene Teile einer Äußerung werden auf verschiedenen Stufen gleichzeitig (inkrementell) verarbeitet. Flüssige Artikulation setzt eine Konzeptualisierung voraus (Zielsetzung), nicht aber die abgeschlossene grammatisch-phonologische Kodierung der Äußerung. - Diesem modernen, psycholinguistischen Modell (Levelt 1989, 9ff.; im Überblick auch schon bei Pechmann 1984, 78ff.) entsprechen traditionelle sprecherzieherische Vorstellungen zum Sprechdenken (Drach 1926, 23f.), Kleists Ansicht „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (1805/06) und auch das Modell der inneren Struktur der Sprechhandlung, wie es in der russischen Sprechtätigkeitstheorie vertreten wird (Leont’ev 1975).

Ich gehe davon aus und, dass

          bei rhythmisch-funktional unterstreichender Gestik weniger Versprecher und Füllwörter auftreten,

          die Geste immer einen Bruchteil einer Sekunde vor dem Wort, das sie unterstreicht, auftritt,

          gestisches Sprechen zu einer klarer akzentuierten akustischen Struktur führt (mehr und deutlichere Pausen, die selbst bei flotterem Grundsprechtempo die Verständlichkeit verbessern, sowie stärkere Betonungen).

Dafür sprechen alle Erfahrungen aus den Schulprojekten sowie aus meiner über zwanzigjährigen freiberuflichen Tätigkeit als Sprecherzieherin und Rhetoriktrainerin.

 

Prinzip konstruktiver Kritik

Die Studierenden und auch die Schüler/innen erwerben Handlungssicherheit durch die Übungen, die mit Video-Feedback und persönlichen Rückmelde-Prozessen reflektiert werden. Dadurch, dass sie konstruktiv kritisiert werden, also Rückmeldungen zu ihren jeweiligen persönlichen rhetorischen Stärken und Schwächen sowie Hinweise zu Verbesserungsmöglichkeiten erhalten, können sie gezielt an ihren jeweiligen Schwachpunkten ansetzen. Sie erfahren bei ihren eigenen Probereden oder anderen Übungen, wie sprachliche, körpersprachliche und sprecherische Mittel in verschiedenen Kommunikationssituationen mit unterschiedlichen Zielsetzungen zusammen wirken und eingesetzt werden können.

Zu Lern- und Übungszwecken sollte man aber immer nur einzelne Aspekte stärker bewusst vollziehen. Denn beim Sprechen laufen alle Aspekte der Sprachproduktion weitgehend automatisiert und unbewusst ab. Nur bei Störungen und Irritationen werden uns einzelne Aspekte bewusst. Wollte man alle Sprechoperationen ständig bewusst vollziehen, würde man handlungsunfähig. Die Automatisierung hat eine wichtige Entlastungsfunktion. Deshalb ist es wichtig, die Aufmerksamkeit der Schüler/innen immer nur auf einzelne zu verbessernde Aspekte zu fokussieren.

 

„Von der Rede zum Gespräch“

Rhetorische Übungen können bei verschiedenen Rede- oder Gesprächsformen ansetzen. Hier wird für den didaktischen Weg „Von der Rede zum Gespräch“ für die Erwachsenenbildung (Pabst-Weinschenk 1991), aber auch schon für die Sekundarstufe II plädiert. Denn das an den Redner oder die Rednerin erteilte Rederecht

·      führt zur Pflicht und Übernahme von Situationsverantwortung,

·      erzeugt Bewusstheit intentionalen Redehandelns,

·      schafft eine objektive Notwendigkeit zur Prozesssteuerung,

·      macht das Kooperationsprinzip erlebbar,

·      reduziert die Komplexität von Interaktion und

·      ermöglicht Transfer auf komplexere Situationen (Zweier-, Kleingruppen- bis zum Großgruppengespräch).

Voraussetzung ist allerdings, dass man Reden als virtuelle Dialoge begreift. Redeübungen ermöglichen ein intensiveres persönliches Lernen und fördern stärker das Bewusstsein für die Gestaltung sprechsprachlicher Kommunikation. Die Schüler/innen erleben dabei stärker die Notwendigkeit, selbst Verantwortung für den Kommunikationsprozess zu übernehmen, und sie stehen dabei  mit ihren persönlichen Kommunikationsfähigkeiten mehr im Mittelpunkt.

 

Für Schüler/innen ungewohnt

Die intensive praktische Arbeit in den kleinen Gruppen war insgesamt für viele Schüler/innen ungewohnt. Durch die Videomitschnitte, das persönliche Feedback und die konstruktive Kritik haben sie gelernt, ihr eigenes Sprechverhalten realistischer einzuschätzen. Eigene Stärken und Schwächen festzustellen, ist immer der erste Schritt in einem rhetorischen Lernprozess.  Aber gerade das ist für Schüler/innen oft noch sehr ungewohnt. Obwohl viele beim Reden gar nicht so unsicher wirken, wie sie sich selbst fühlen, sondern schon recht selbstbewusst auftreten, mögen sie sich selbst im Video nicht so gern anschauen. Vor allem ihre Stimme finden die meisten schrecklich. Dass jeder sich selbst immer anders hört, als andere ihn wahrnehmen, ist physiologisch normal. Vielen Schüler/innen fällt es dennoch schwer, sich mit ihrem Stimmklang ‘anzufreunden’, obwohl die meisten die positiven Rückmeldungen auch als beruhigend empfunden haben.   

 

Frei sprechen können

Um die Auswahl der Übungen möglichst gut auf die Schülerbedürfnisse abzustellen, haben die Studierenden vorher bei ihren Teilnehmern jeweils eine Befragung durchgeführt. Dabei wurde deutlich, dass die meisten Schüler/innen schon viele Referate gehalten haben, aber meistens mehr abgelesen und nicht frei gesprochen haben. Das freie Sprechen bereitet  vielen Probleme, weil sie mündlich genauso ausdrücken wollen, wie sie es beim Schreiben gelernt haben. Dass dies nicht funktionieren kann, wird offensichtlich, wenn man überlegt, wie viel Zeit einem jeweils zur Verfügung steht. Während man beim Schreiben innehalten kann, um Wörter auszutauschen oder umzustellen, muss man beim Sprechen die erstbeste Formulierung nehmen, die einem in den Sinn kommt. Gelegentliche Füllwörter wie äh, halt oder ein Satzbruch können sich einschleichen. Werden sie nicht zu oft benutzt, fallen sie gar nicht auf. Auffälliges Stocken im Sprechfluss und Denkblockaden hängen meistens mit Verkrampfungen in der Körpersprache zusammen. Diese Erkenntnis war für die Schüler/innen oft ganz neu. Gestik dient eben nicht nur zur Illustration, sondern der ganze Körper spricht immer mit. Wer sich sprachlich gut ausdrücken möchte, ist auf die unterstützende Funktion der Körpersprache angewiesen. Bei den Videoaufnahmen konnten sie es selbst sehen: Wer seine Gestik nicht unterdrückt, spricht flüssiger, macht Sinnpausen und verwendet weniger Füllwörter. Diese Erkenntnis, die durch neue psycholinguistische Forschungen belegt wird (siehe oben!), haben die Schüler/innen in den Projekten am eigenen Leib erfahren, beim Video-Playback gesehen und gehört und bei den Besprechungen reflektiert.

 

Erschwerende Rahmenbedingungen in der Schule

Die Rhetorik-Schulprojekte stellen im normalen Schulalltag eine Ausnahme dar. Sie sind Sonderveranstaltungen. Das ist beabsichtigt, denn im traditionellen Schulsystem werden rhetorische Lernprozesse erschwert, vor allem durch:

1.    Rhetorische Lernprozesse (mit Video-Auswertung und Besprechung) brauchen Zeit, die vielfach bei der Überfrachtung der gesamten Lehrpläne de facto nicht zur Verfügung steht.

2.    Rhetorische Übungen und Erfahrungslernen können schlecht im 45-Minuten-Takt der normalen Unterrichtszeit organisiert werden. Als Projekte finden rhetorische Übungen dann immer nur ausnahmsweise statt, was kontinuierliches Lernen in diesem Bereich erschwert.

3.    Eine funktionierende technische Ausstattung (TV, Video-Camera usw.) ist notwendig.

4.    Der permanente Benotungsdruck, unter dem Schüler/innen stehen, blockiert und mindert ihre positive Einstellung. Sie haben weniger Spaß bei der Sache. Sie erleben in der Schule selten Situationen als Freiräume, in dem sie Verhaltensalternativen ausprobieren können ohne Ernstfallkonsequenz, wenn’s daneben geht.

5.    Durch die Benotungsnotwendigkeit sind Lehrer/innen manchmal ungeübter im Geben (und Nehmen!) offener Feedbacks. Sie neigen manchmal zu sehr zu - wenn auch gut gemeinten - Ratschlägen, die von den Schüler/innen eher destruktiv als konstruktiv erlebt werden.

 

Drei Stunden zum ‘Schnuppern’

Die provokative Frage im Titel dieses Beitrags „Können Schüler/innen in drei Stunden Kommunikation lernen?“ muss man in dieser allgemeinen Form natürlich verneinen. Aber was sie in dieser Zeit erfahren, sind wichtige neue Aspekte für ihre eigene Kommunikationsbiografie. Sie erleben in der Regel in zwei kleineren praktischen Übungen, wie sie selbst reden, erhalten von ihren Mitschüler/innen und von Trainerseite (Studierende und Dozentin) gezieltes Feedback und Anregungen für weiteres Lernen in diesem Bereich. Die konstruktive Kritik ermöglicht ihnen, ihre persönlichen Stärken wahrzunehmen und wichtig zu nehmen und sich gezielt nur auf einzelne Punkte  beim Reden zu konzentrieren. Dadurch werden Sprechblockaden verhindert, denn flüssige Sprachproduktion wird verzögert, wenn der Monitoring-Vergleich von Form (des inneren und/oder äußeren Sprechens) und Konzept die Konzeptualisierung dominiert. Das geschieht, wenn man auf zu viele Sprechoperationen gleichzeitig achten will.

Durch das Video-Playback haben die Schüler/innen die Chance, sich selbst so zu sehen und zu hören, wie es andere wahrnehmen. Dadurch kommt es zu einer Verringerung des sogenannten blinden Flecks in der Selbstwahrnehmung (Johari-Window). Ihre Aufmerksamkeit wird insgesamt auf die besonderen Phänomene des mündlichen Ausdrucks gelenkt und damit erweitern sie neben den persönlichen Erfahrungen auch ihr Wissen über Kommunikation und rhetorische Wirkungszusammenhänge. In diesem Sinne leisten auch Schnupperkurse von nur drei Stunden einen wichtigen Beitrag zum persönlichen rhetorischen Lernen und fördern die Sprachbewusstheit.

 

Literatur

Allhoff, Dieter W.; Allhoff, Waltraud 1998: Rhetorik und Kommunikation. Ein Lehr- und Übungsbuch zur Rede- und Gesprächspädagogik. 12., aktualisierte und erw. Aufl., Regensburg: Bayer. Verlag für Sprechwissenschaft

Berthold, Siegwart 1993: Reden lernen. Übungen für die Sekundarstufe I und II. Frankfurt/M: Cornelsen Scriptor

Drach, Erich 1926: Die redenden Künste. Leipzig: Quelle und Meyer

Kemmann, Ansgar 2001a: Rhetorik in Schule und Hochschule. Dokumentation im Auftrag der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Frankfurt/M.

Kemmann, Ansgar 2001b: Wie kann in Deutschland Rhetorik in Schule und Hochschule wieder eingeführt werden? Gutachten im Auftrag der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Frankfurt/M.

Leont’ev, A. A. 1975: Psycholinguistische Einheiten und die Erzeugung sprachlicher Einheiten. Berlin 

Levelt, Willem J.M. 1989: Speaking. From Intention to Articulation. Massachusetts Institute of Technology 

Lüdin, Markus 1996: Rhetorik - ein ideales Feld integrativen Unterrichts. In: Der Deutschunterricht. 48. Jg., H. 6, 34-43

Lurija, A. R. 1982: Sprache und Bewußtsein. Berlin

Merger, Andrea 1998: Vorwort. In: Jahrbuch Rhetorik, Bd. 17: Rhetorik in der Schule. Tübingen: Niemeyer, IX-XII

Pabst-Weinschenk, Marita 1991: 'Von der Rede zum Gespräch'. Zur Didaktik der rhetorischen Kommunikation in der Erwachsenenbildung. In: Lüschow, F.; Pabst-Weinschenk, M. (Hg.): Mündliche Kommunikation als kooperativer Prozeß. Festschrift für Elmar Bartsch. Frankfurt/M.: Lang, 42-54

Pabst-Weinschenk, Marita 1995: Reden im Studium. Ein Trainingsprogramm. Frankfurt/M.: Cornelsen Scriptor (2. Aufl. 1999)

Pabst-Weinschenk, Marita 1998a: Mündlich argumentieren. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 17, Tübingen: Niemeyer, 106-133

Pabst-Weinschenk, Marita 1998b: Rhetorische Überlegungen zum Kommunikationsprozeß in der Therapie. In: Sprache, Stimme, Gehör. Stuttgart: Thieme, 22, 4, 188-192

Pabst-Weinschenk, Marita 1999a: Zufriedene Kunden. Ein Beitrag zur kooperativen Verkaufsrhetorik. In: Mönnich, A.; Jaskolski, E. W. (Hg.): Kooperation in der Kommunikation. München: Reinhardt, 161-169

Pabst-Weinschenk, Marita 1999b: KOPF - BAUCH - FUSS - Wo steht die moderne Rhetorik? In: Mönnich, A. (Hg.): Rhetorik zwischen Tradition und Innovation. München: Reinhardt, 78-90

Pabst-Weinschenk, Marita 2000: Sprechwerkstatt. Sprech- und Stimmbildung in der Schule. Braunschweig: Westermann

Pabst-Weinschenk, Marita 2002, in Vorbereitung: Geschichte der Sprech- und Gesprächsdidaktik. In: Didaktik der deutschen Sprache - ein Handbuch. Paderborn: Schöningh [Große Reihe UTB]

Pawlowski, Klaus; Lungershausen, Helmut; Stöcker, Fritz 1985: Jetzt rede ich. Ein Spiel- und Trainingsbuch zur praktischen Rhetorik. Wolfsburg: Niedersachsen Druck (2. Aufl. Hannover 1993)

Pechmann, Thomas 1984: Sprachproduktion. Zur Generierung komplexer Nominalphrasen. Opladen: Leske

Praxis Deutsch, 1979, Heft 33 „Rhetorische Kommunikation“

Praxis Deutsch, 1997, Heft 144 „Reden lernen“

Praxis Deutsch, 2000, Heft 160 „Argumentieren“

Richtlinien und Lehrpläne für die Sek. II in NRW, Gymnasium/Gesamtschule, Deutsch. Hg. v. MSWWF. Frechen 1999

Schuster, Karl 1998: Mündlicher Sprachgebrauch im Deutschunterricht: Denken - Sprechen - Handeln. Theorie und Praxis. Hohengehren: Schneider

Spinner, Kaspar H. 1997: Reden lernen. In: Prais Deutsch. 24. Jg., H. 144, 16-22

Wagner, Roland W. 1999: Grundlagen der mündlichen Kommunikation. Sprechpädagogische Bausteine für alle, die viel und gut reden müssen. 8., erw. Aufl., Regensburg: Bayer. Verlag für Sprechwissenschaft

 



[1] Rhetorik müsste allgemein in der Deutschdidaktik stärker berücksichtigt werden. Damit könnten alte Traditionen neu belebt werden: Denn seit der Antike wares es die Rhetoriker, die über Lehren und Lernen und Vermittlungsprozesse nachgedacht und didaktische Theorien entwickelt haben. Rhetorik  zählte neben Grammatik und Dialektik zum Trivium der sieben freien Künsten, also dem wissenschaftlichen Bildungskanon. Im Mittelalter und in der Renaissance werden sie in der sogenannten Artistenfakultät zur Vorbereitung  auf das eigentliche Studium von Theologie, Recht oder Medizin gelehrt. Die Artistenfakultät rückt im 18. Jahrhundert auf zur Philosophischen Fakultät, also der Fakultät, die heute zuständig ist für die Philologien und Lehramtsstudien.

[2] Nach Robert Krauss, einem Psychologen der Columbia Universität kann  „Gestik als geistige Brücke zwischen räumlichen Konzepten und Wörtern dienen“, die es erleichtert, „schnell die richtige Phrase zu denken“. (In: Psychology Today, März/April 1997 (1. Mai 1997) Zit. nach: L.O.G.O.S. 4/1998, 284 f.) Und auch der niederländische Psychologe Jan-Peter de Ruiter vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nimwegen hat erforscht, das Gesten beim Sprechen und Erinnern helfen. Versprecher kündigen sich z. B. in der Gestik an. (Laut dpa, Nachricht in der NRZ vom 25.02.1998).